den Tsunami nicht vergessen

étoile

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27. September 2005, Neue Zürcher Zeitung

Eva Stucki - den Tsunami nicht vergessen


mju. Die Tsunami-Katastrophe ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Die Verwüstungen des Hurrikans in New Orleans, Überschwemmungen in der Schweiz, Anschläge im Irak - die Welt liefert fast jede Woche Stoff, um sogar eine Katastrophe solch enormen Ausmasses in den Hintergrund treten zu lassen. Für viele Betroffene aber ist es noch heute, als wäre das Meer gerade erst angeschwollen. Eva Stucki erlebte den Tsunami während eines Hotelaufenthaltes in Sri Lanka. Die Naturärztin half in den ersten Tagen nach dem 26. Dezember nicht nur mit, das Leid zu mildern. Sie beschloss auch, im Land ein Hilfsprojekt aufzubauen, das den Opfern längerfristig Unterstützung sichert.

Herzlichkeit und Tatendrang
Stucki leitet in Zürich eine Gesundheitsschule, die ein grünes Herz im Signet führt. Die 58-Jährige empfängt uns in den gemütlichen Räumen des Instituts namens Natura Medica im Kreis 6. Ihre roten Haare und ihr oranger Blazer strahlen Energie aus, ihr Blick vermittelt Herzlichkeit und Tatendrang. In Sri Lanka habe sie eigentlich nur zur Hälfte Ferien gemacht, erklärt sie. Sie wollte in ihrem Hotel in Bentota als Touristin und Fachfrau die ayurvedische Behandlungsmethode kennen lernen. Am Tag der Katastrophe hörte sie plötzlich Leute schreien und wegrennen. Zuerst dachte sie, dass sich ein wildes Tier in den Garten verirrt habe. Sie trat ins Freie - und sah das Wasser kommen.

Eva Stucki und ihr Mann konnten sich in den Meditationsraum retten, den einzigen Raum, der höher gelegen war als die Bungalows der Ferienanlage. Sie erinnert sich an Menschen, die nach der ersten Welle im Hotel zu putzen begannen, weil sie glaubten, dass alles vorbei sei. Doch bald kamen die nächsten Wellen. Die Halbinsel, auf der ihr Hotel lag, wurde durch die Wassermassen zur Insel, die beiden sassen fest. Dann geschah etwas, das Stucki so tief beeindruckte, dass sie bis heute hartnäckig den Aufbau des Hilfsprojekts verfolgt. Von der Hotelleitung war nichts mehr zu hören, schon richtete sich das Ehepaar darauf ein, in der zerstörten Anlage zu übernachten. Da kamen vom Festland Einheimische mit Booten und brachten die beiden in Sicherheit. «Uns haben an diesem Tag Menschen das Leben gerettet, die selber Angehörige vermissten oder gar verloren hatten», staunt Stucki noch heute.

Die beiden wurden in ein anderes Hotel gebracht. Dort wollte man ihre Ayurveda-Kur weiterführen, als ob nichts geschehen sei. «Doch 50 Meter weiter fuhren Lastwagen voller Leichen vorbei.» Sie begann, mit anderen Gästen Geld und Kleider zu sammeln. Viele Überlebende hielten sich in Tempeln und Schulen auf. Die Gruppe organisierte Transportmittel, um dort Güter zu verteilen. Nach einigen Tagen kehrte Stucki in die Schweiz zurück. Sie spendete nach der Katastrophe zwar der Glückskette, doch für sie war klar, dass sie mehr tun wollte. Sie habe in der Not unmittelbare Hilfe erhalten und wolle diese nicht anonym mit Geld verdanken, sagt sie.

Hilfe für 400 Jugendliche pro Jahr
Sie wandte sich an das Hilfswerk Co-Operaid, das zufälligerweise in der gleichen Liegenschaft angesiedelt ist wie ihre Schule. «Wir haben kein Projekt in Sri Lanka», wandte deren Leiter ein. «Dann müssen Sie dort etwas unternehmen!», rief ihm Stucki zu und schaffte es, ihn zu überzeugen. Sie begann, bei Freunden, Lehrern, Schülern und Bekannten Geld zu sammeln. Zuerst hegte sie die Idee, ein Waisenhaus einzurichten, was von der sri-lankischen Regierung aber untersagt wurde. Schliesslich fand sie eine Organisation, die in Sri Lanka seit über 60 Jahren Hilfsprojekte für Kinder und Jugendliche initiiert. Ihr Projekt wird jetzt an einem anderen Ort der Insel verwirklicht, nämlich in Trincomalee, einem Gebiet, das vom Bürgerkrieg wie auch vom Tsunami stark betroffen ist. Dort richten verschiedene Hilfsorganisationen ein Friedenszentrum ein, wobei das von Stucki initiierte Projekt den Bau eines Berufsbildungszentrums vorsieht. 400 Jugendliche können dort pro Jahr eine praktische Ausbildung absolvieren, und dank Sprachunterricht wird das Verständnis unter den verschiedenen ethnischen Gruppen im Gebiet gefördert.

Die Glückskette hat für das Projekt einen substanziellen Beitrag gesprochen, ein Gesuch beim Kanton Zürich ist noch hängig. Die sri-lankische Regierung hat zugesagt, das Zentrum nach drei Jahren zu übernehmen - Stucki will allerdings auch darüber hinaus dem Projekt Hilfe zukommen lassen. Nächstes Jahr will sie die Schule besuchen, vielleicht könne sie dort auch Kurse geben. Zum Schluss fragen wir die engagierte Frau, ob sie dank dem Hilfsprojekt die Schreckensbilder verarbeiten könne. «Es hilft immerhin», entgegnet sie uns nach kurzem Zögern.

http://www.nzz.ch/2005/09/27/zh/articleD5NX7.html
 
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