1. treffen der tsunamiopfer

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Eine Flut von Fragen

Angehörige von Tsunami-Opfern fühlen sich von Behörden und Politik im Stich gelassen / Erstes bundesweite Treffen

VON KARIN CEBALLOS BETANCUR








Offene Fragen (ddp)


Als sie am Abend den Tempel erreichte, funktionierte der Empfang wieder. Irgendjemand hatte Papiere dabei, von Neckermann und von der deutschen Botschaft. Daniela Darnhofer wählte eine Nummer in Bangkok. Der Mann am anderen Ende der Leitung wusste nicht, dass der Tsunami am Morgen auch Khao Lak erreicht hatte, nichts von den Toten und Verletzten. Im Grunde wusste er gar nichts, sagt sie. Sieben Stunden nach der Welle.

"Wie viele Leute sind Sie denn?" fragte er.

"Hier im Tempel? Ein paar Hundert."

"Ja, um Himmels Willen, was ist denn da passiert?"

"Das wollte ich eigentlich von Ihnen wissen."

Wissen ist die zentrale Kategorie, um die es an diesem Samstag geht, beim ersten bundesweiten Angehörigentreffen der Tsunami-Opfer, in einem Tagungshotel im Main-Taunus-Kreis. Verstehen, warum man sie in den Tagen und Wochen nach der Katastrophe nicht besser mit Informationen versorgt hat. Warum sie den Satz "Tut mir leid, mehr weiß ich auch nicht" immer wieder zu hören bekommen haben, beim Auswärtigen Amt, beim Bundes- und Landeskriminalamt, bei den Polizeidienststellen. Warum über private Foren im Internet mehr zu erfahren war als über jede der offiziellen Hotlines. Die Politiker, die der Verein "Missing People" zum Treffen eingeladen hat, sind nicht gekommen. Auf dem Podium sitzen ein evangelischer Seelsorger, ein Molekularbiologe, der am Nachmittag erklären wird, warum eine DNA-Analyse in der Wirklichkeit länger dauert als im Fernsehen, und Jürgen Peter.

Der Kriminaloberrat, Leiter der Identifizierungskommission des BKA, ist für den Teil des Unbegreiflichen zuständig, der mit technischen Details zumindest beschrieben werden kann. Finger- und Handflächenabdrücke, Zahnstellungen, DNA-Analysen. Vom 27. Dezember bis Ende Januar war er selbst in Thailand. Ein Teil seines Teams ist noch immer vor Ort und wird bleiben, bis zum 26. Dezember, dem ersten Jahrestag der Flutkatastrophe.




Wahrscheinlich ist es nicht leicht, diesem Treffen als einziger Vertreter einer staatlichen Institution beizuwohnen. "Das ist mein Job", sagt Peter und zuckt die Schultern. Ihr Hauptanliegen sei es, den Opfern Namen und Individualität zurückzugeben, Trauerarbeit zu ermöglichen. "Wir tun alles in unserer Macht stehende, um Gewissheit zu schaffen", sagt er, "das müssen Sie mir glauben". Kopfschütteln, Stille.

Peter berichtet vom Informationschaos, das sein Team vorfand, als sie im Dezember nach Thailand kamen. Von der Unmöglichkeit, unter den Leichen in den Tempeln auf Anhieb auch nur die Nationalität auszumachen. Von der schwierigen Anfangsphase des Thai Tsunami Identification Center und dem mühsamen Versuch, internationale Standards für die Dokumentation von Individualmerkmalen zu entwickeln, um auch nach einer vorläufigen Bestattung noch die Identifizierung möglich zu machen.

Er sagt: Das war eine der aufwändigsten Aktionen der letzten Jahrzehnte. Unser Team war ausgestattet für den klassischen Flugzeugunfall, ein Zugunglück. Niemand war auf diesen Langzeiteinsatz vorbereitet. In einem Land mit mangelhafter Infrastruktur. Mit einer einzigen Zufahrtsstraße, auf der Lebensmittel, Hilfsgüter und Kühlwagen für die Leichen transportiert werden mussten. Von den insgesamt 552 deutschen Tsunami-Opfern sind inzwischen 525 identifiziert worden. Die Zahlen mögen einen Halt geben, aber er ist fragil und trügerisch. Einen Vermissten haben die Beamten vor eineinhalb Wochen gefunden. Auf einer Insel. In einer Bar. Peter sagt, der Mann sei völlig verblüfft gewesen, dass das BKA nach ihm sucht, ein Aussteiger, der nicht daran gedacht hatte, nach der Flutwelle seine Angehörigen in Deutschland zu informieren. Zugegeben: eine Ausnahme, sagt Peter. "Wir wissen nicht, wie viele Opfer nicht geborgen wurden und nie geborgen werden können. Wahrscheinlich werden wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem wir einen Rest Vermisster haben, zu denen es keine Leichen gibt, und Tote, die nicht identifiziert werden können." Es wird Menschen geben, die die Hoffnung nie aufgeben werden dürfen.

Es gibt wenig Tränen an diesem Samstag, und viele Zigaretten. Als warteten sie noch immer, auch diejenigen, deren Kinder, Geschwister, Partner längst identifiziert worden sind. An den Stehtischen vorm Tagungsraum betrachten sie gemeinsam Fotos, die einen Traumurlaub dokumentieren sollten und zu Beweisaufnahmen von einem Tatort geworden sind.

"Das BKA und die Polizei haben ganze Arbeit geleistet", sagt Klaus Waldschmidt. "Aber die Bundesregierung, um die geht's." Seine 33 Jahre alte Tochter war in Thailand mit ihrem Lebensgefährten unterwegs. Nach ihrer Rückkehr wollten sie heiraten. Im März wurden ihre Leichen identifiziert. "Unsere Regierung hat sich stoffelig verhalten." Der Vater sagt, dass er mit seiner Meinung nicht allein steht. In einem roten Schnellhefter bewahrt er die Papiere auf, die ihm die Botschaft in Bangkok geschickt hat. Ein Anschreiben und Sterbeurkunden, das thailändische Original und eine Übersetzung. Der Botschafter bekundet den Hinterbliebenen sein Beileid. "Aber vom Fischer haben wir nix bekommen", sagt Waldschmidt. "Dass sich der Fischer da nicht mal selbst gekümmert hat, nicht mal fünf Minuten Zeit hat, um eine Beileidskarte zu schreiben." Er erzählt, dass er früher beim Flughafen gearbeitet hat und einmal nicht zur Arbeit konnte, wegen der Startbahn-West-Gegner. Dass Fischer damals schon mitgemischt hat. "Und jetzt tut er nichts für's Volk, nur für Europa." Klaus Waldschmidt sagt, dass man der Natur keinen Vorwurf machen kann.


Jürgen Peter sitzt am Podiumstisch und beantwortet die Detailfragen derer, die selbst zu Experten geworden sind, weil sie das Chaos gelehrt hat, Experten zu misstrauen. Er räumt ein, dass am Anfang viele Angehörige nicht die Informationen bekommen haben, "die sie hätten bekommen müssen". Der Tsunami, sagt er, sei ein Ausnahmezustand nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Dienststellen gewesen.

Seine Worte glätten die Wogen, verwandeln eine misstrauische Stimmung in Interesse, vielleicht sogar Dankbarkeit. "Wenn Sie's jetzt erklären, versteht man ja auch einiges", sagt ein junger Vater, der seinen Sohn verloren hat. "Aber warum haben Sie das nicht mal früher mitgeteilt?" Er spricht vom Chaos in der deutschen Botschaft in Bangkok, von den zahllosen Listen, nicht vorhandenen Computern, überforderten Mitarbeitern. Ein anderer, dessen Bein in einem Gips steckt, wendet sich zu ihm um und sagt, dass es doch keinen Sinn mehr habe, jetzt über all das zu reden, was schief gelaufen ist. "Das war eine Flutwelle, ein Ausnahmezustand." Eine Erklärung, sicher, aber keine, die zufrieden stellt.

"Man fühlt sich, als würde man vor einer großen Black Box stehen", sagt eine Frau, stützt das Kinn auf die Tischplatte, sieht ins Leere.

"Und die Black Box World Trade Center?" fragt Peter. "Ich weiß nicht, wie es da mit der Identifizierungsquote aussieht."

"50 Prozent", sagt sie, schnell. Zahlen halt.
 

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