Zwischen Heimweh und neuer Integration

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Martin Stürzinger in der NZZ, 24.5.2003

Tamilen in der Schweiz und der prekäre Friedensprozess in Sri Lanka

In der Schweiz leben rund 35 000 sri-lankische Staatsangehörige, vor allem Tamilen. Sie haben die Realität des Asyllandes geprägt wie kaum eine andere Gruppe. Seit die tamilische Guerilla mit der Regierung über einen endgültigen Frieden verhandelt, denken viele Tamilen an eine Rückkehr, sind aber unsicher, ob es nicht noch zu früh ist.
«1985 reiste unsere Familie wegen des Bürgerkrieges in die Schweiz ein. Wir waren damals zwei Jahre und sieben Monate alt. Unser Bruder wurde ein Jahr später in der Schweiz geboren. Wir hatten vor, nur einige Jahre in der Schweiz zu leben und dann, wenn der Bürgerkrieg zu Ende ist, wieder nach Sri Lanka zurückzugehen. Jetzt sind schon 17 Jahre vergangen, und Sri Lanka hat immer noch keine politische Friedenslösung. So sind wir hier geblieben.» Das schreiben Nilayini und Thaka Vamatheva in ihrer Maturarbeit, und so wie ihrer Familie ging es wohl den meisten Tamilen, die in der Schweiz um Asyl ersuchten.
20 Jahre Unsicherheit
Im März 1983 sprach der damalige Stadtberner Polizeichef von einer «eigentlichen Flut» von Flüchtlingen aus Sri Lanka. Damals warteten gerade 179 tamilische Asylbewerber auf ihren Entscheid. Doch nach dem Pogrom vom Juli 1983, dem Hunderte von Tamilen zum Opfer fielen, flüchteten Tamilen in grosser Zahl aus dem Land, die meisten ins benachbarte Indien, aber auch Tausende in den Westen. 1985 kamen fast 3000 Tamilen in die Schweiz, was damals über ein Viertel aller Asylgesuche ausmachte.
1985 kam auch Nagesh Uruthira Moorthy nach Basel. Seine Familiengeschichte zeigt, wie eng viele Biographien mit dem Krieg verknüpft sind. Der heute 52-jährige Moorthy wuchs zusammen mit zehn Geschwistern in Adampam auf der Halbinsel Mannar auf. Drei seiner Brüder kämpften in drei verschiedenen tamilischen Gruppierungen für einen tamilischen Staat im Norden und Osten Sri Lankas, alle sind tot. Ein weiterer Bruder wurde verhaftet und ist seit acht Jahren spurlos verschwunden. Sein Vater starb, als Moorthy bereits in die Schweiz geflüchtet war. Indische Soldaten hatten ihn in seinem Geschäft nach den Tamil Tigers gefragt, und als er sagte, er wisse nichts über sie, schlugen sie ihn, bis er tot war. Moorthy, der seit 13 Jahren in der Freiplatzaktion Basel aktiv ist, war seit seiner Flucht nie mehr in Sri Lanka. «Früher warteten wir jedes Jahr, dass wir nach Sri Lanka zurückkehren könnten», sagt er. «Wir haben bis heute noch nicht endgültig entschieden, ob wir in der Schweiz bleiben werden.»
Das Bundesamt für Polizeiwesen war von der grossen Anzahl Asylsuchender völlig überfordert. 1986 wurde deshalb das Amt des Delegierten für das Flüchtlingswesen unter der Leitung von Peter Arbenz geschaffen, das Abhilfe schaffen und vor allem für eine Beruhigung an der politischen Front sorgen sollte. 1990 wurde das Bundesamt für Flüchtlinge (BfF) eingerichtet. «Damit übernimmt der Bund die Flüchtlings- und Asylpolitik als Daueraufgabe», schrieb das BfF in seinem Leitbild. Gleichzeitig wurden eine Beschleunigung des Verfahrens und ein Arbeitsverbot während dreier Monate beschlossen. Trotzdem kamen immer mehr Tamilen. 1993 waren rund 25 000 Tamilen in der Schweiz, die höchste Zahl in Europa, gemessen an der Bevölkerung.
Sivam Mailvaganam flüchtete vor 18 Jahren in die Schweiz und lebt heute in Thun. «Ich hatte ein kleines Videogeschäft in Jaffna. Die Armee dachte, wir würden Filme drehen für die Tamil Tigers. Deshalb zerstörten Soldaten 1984 mein Geschäft und plünderten, was noch übrig war. Ich versteckte mich sechs Monate lang.» Die Eltern und ein Onkel bezahlten ihm schliesslich die Reise in die Schweiz.
Zerstörung in der Heimat
Der heute 43-jährige Sivam spricht ausgezeichnet Deutsch und ist seit zweieinhalb Jahren Schweizer Staatsbürger. Heimweh hat er trotzdem. Als im letzten Jahr der Waffenstillstand hielt und endlich Friedensgespräche zwischen der Regierung und der tamilischen Guerilla begannen, reiste er im Juni mit seiner Frau und den beiden Kindern zum ersten Mal wieder in den Norden Sri Lankas. «Ich mietete in Colombo einen kleinen Bus, um nach Jaffna zu fahren. Die Fahrt war sehr teuer, und unterwegs mussten wir auch den Tamil Tigers Abgaben bezahlen.» Sein Elternhaus fand er völlig zerstört vor. «Es stand im Zentrum von Jaffna, in unmittelbarer Nähe des Forts, das lange von der Armee besetzt war.» Sein Bruder starb 1988, als das Haus von der Armee beschossen wurde. «Es ist alles sehr schade, sehr traurig», seufzt er.
Sivam hat Vertrauen, dass der Friedensprozess Erfolg haben wird. «Einmal muss eine Lösung gefunden werden.» Trotzdem kommt eine Rückkehr für ihn nicht in Frage. «Meinen Kindern hat es zwar in Sri Lanka sehr gefallen, vor allem die Landschaft und die Palmen. Aber sie wollen nicht dort leben. Ihnen war es viel zu heiss, und sie kriegten sogar ein Ekzem.»
Zwischen Wegweisung und Aufnahme
1994 unterzeichnete die Schweiz als erster europäischer Staat ein Abkommen mit Sri Lanka, das die Rückkehr in «Sicherheit und Würde» garantieren sollte. Gleichzeitig wurden rund 6000 Asylbewerber, die ihr Gesuch vor dem 1. Juli 1990 eingereicht hatten, vorläufig aufgenommen. Die Zahl der Rückkehrer blieb trotz dem Abkommen gering. Zwischen Anfang 1994 und Ende 2002 kehrten lediglich 1709 abgelehnte Asylsuchende nach Sri Lanka zurück. Hingegen tauchten in dieser Zeit rund 8000 Asylsuchende unter, zumeist aus Furcht, sonst ausgewiesen zu werden.
Im Jahr 2000 wurden erneut rund 7500 Personen aus Sri Lanka vorläufig aufgenommen. Seither sind alle tamilischen Asylsuchenden, die ihr Gesuch vor 1993 gestellt haben, sowie ihre Ehepartner und Kinder im Besitz zumindest einer vorläufigen Aufenthaltsbewilligung. Heute haben fast 6000 Personen aus Sri Lanka eine Niederlassungsbewilligung C, über 24 000 eine Aufenthaltsbewilligung B, und rund 3500 Personen, vor allem Kinder und Jugendliche, die hier zur Schule gingen, wurden eingebürgert. Das bedeutet, dass ein Grossteil der Asylsuchenden aus Sri Lanka nicht mehr ins Heimatland zurückkehren muss.
Das bedeutet nicht, dass sie nicht zurückkehren wollen. Vijayanathan Ratnacumar zum Beispiel verzehrt es bisweilen fast vor Heimweh. «Am liebsten würde ich so schnell wie möglich zurück. Aber ich will nichts übereilen», sagt er. Cumar gehört zu den wenigen Tamilen, denen in der Schweiz Asyl gewährt wurde. Heute arbeitet er als Schichtführer bei der Firma Senn Chemicals. Daneben führt er die Beratungsstelle Palmyra in Zürich, die tamilischen Asylsuchenden Auskunft zu rechtlichen Fragen erteilt, bei Übersetzungen hilft und versucht, bei familiären Problemen zu vermitteln. Er ist auch im Komitee des Hindutempels in Adliswil, Mitglied des tamilischen Kulturzentrums und der Ausländerkommission.
1991 heiratete er, und seine Eltern kamen mit einem dreimonatigen Besuchervisum in die Schweiz, um an der Hochzeit teilzunehmen. Kurz vor der geplanten Rückreise erfuhr Cumar, dass seine Eltern gesucht würden wegen eines Cousins, der Mitglied der Tamil Tigers war. Wohl oder übel stellten sie ebenfalls einen Asylantrag und quartierten sich in Cumars Wohnung ein, wo seit der Geburt von drei Kindern, wie in Sri Lanka üblich, drei Generationen zusammenleben. Cumar macht sich keine Illusionen über seine Rückkehr: «Zurzeit gibt es noch keinen richtigen Schutz. Aber ich möchte schon, dass meine Kinder ihr Land einmal kennen lernen. Sie besuchen Kurse in tamilischer Sprache und sprechen und schreiben schon gut.»
Zurück will auch Peter Jakomuthu. Der studierte Theologe flüchtete 1985 in die Schweiz. Auch ihm wurde 1987 Asyl gewährt. Einfach war das nicht. «Die Schweizer Botschaft traf Abklärungen in Sri Lanka. Darüber wurde dann sogar in sri-lankischen Zeitungen berichtet, was mir zusätzlich Probleme bereitete.» Jakomuthu arbeitet zu 80 Prozent als Betreuer im Zentrum für Asylsuchende in Euthal bei Einsiedeln und zu 20 Prozent bei der Fachstelle für interkulturelle Fragen der Stadt Zürich. Dort ist er für die Betreuung von Tamilen zuständig. Im Dezember 2002 war er zum ersten Mal nach 17 Jahren wieder in Sri Lanka. Möglich wurde das erst, nachdem er Schweizer geworden war; anerkannte Flüchtlinge dürfen ihre Heimat nicht besuchen. «Ich organisierte eine Zusammenkunft der ganzen Familie in Colombo und mietete dafür eine Pension für zwei Wochen.» 38 Familienmitglieder nahmen an diesem Treffen teil: «ein Bruder, der in Chur lebt, der ältere Bruder mit seiner Familie aus England, ein Bruder aus Australien, zwei Brüder aus Jaffna, eine Schwester aus Sillalai, ein Neffe aus Kanada und einer aus Deutschland».
Wurzeln in der Schweiz
Viele tamilische Familien haben heute Familienmitglieder auf mehreren Kontinenten, Familientreffen sind selten. «Wir hatten eine sehr schöne Zeit», sagt Peter Jakomuthu. «Meine Töchter wollten sogar noch länger bleiben. Aber wegen der Schule und der Freunde wollen sie nicht dort leben.» Tatsächlich ist Jakomuthu der Einzige in der Familie, der zurück will. «Ich habe mir überlegt, dass man mich vielleicht brauchen kann, zum Beispiel im Sozialbereich.» Aber seine Frau und die 13- und 11-jährigen Töchter wollen bleiben. Dass da sein Wunsch keine Chance hat, ist ihm klar. «Wir lösen das demokratisch», sagt er lachend. Allerdings denkt auch er, dass es für eine Rückkehr noch zu früh ist: «Ich kenne niemanden, der jetzt schon zurückkehren will. Die meisten sind skeptisch.»
Auch Moorthy, der heute als Computerfachmann bei einer grossen Basler Firma tätig ist, glaubt trotz dem Waffenstillstand nicht an eine rasche Besserung der Lage in Sri Lanka. Um die Not in der Heimat zu lindern, unterstützt er seine Familienmitglieder und zwei muslimische Familien, Jugendfreunde aus demselben Dorf, die ebenfalls vor den Kämpfen flüchten mussten, «aber nicht zu 100 Prozent», schränkt er ein, «damit der Wert der Arbeit nicht vergessen wird».
Nur für Ferien
Vamatheva Thiagendren, der Vater von Nilayini und Thaka, die in diesem Sommer an der Kantonsschule Zürich Oerlikon ihre Matur machen werden, will hingegen unbedingt nach Sri Lanka zurück, sobald er sicher ist, dass seine Kinder gut versorgt sind. Sein jüngster Sohn Arjuna wird in zwei Jahren seine kaufmännische Lehre beenden. Seine Frau und die drei Kinder hingegen wollen hier bleiben, obwohl sie schon zweimal in Sri Lanka waren. «Für Ferien würde ich sehr gerne nach Sri Lanka gehen», sagt Nilayini. «Es ist toll, wenn man Leute um sich hat, die alle gleich aussehen und dieselbe Sprache sprechen. Vor allem während der letzten Reise gefiel mir die tamilische Kultur sehr gut.» Auch Arjuna möchte höchstens für Ferien zurück: «Ich bin in der Schweiz geboren.»
Tatsächlich ist das Rückkehrprogramm des BfF noch kein Erfolg, obwohl freiwillig Zurückkehrende heute eine finanzielle Starthilfe von über 2000 Franken pro erwachsene Person und rund 1000 Franken pro Kind erhalten. Trotzdem will das Amt Zwangsrückschaffungen vorerst nicht forcieren. Auch der sri-lankische Minister für Rehabilitation, Umsiedlung und Flüchtlinge, Jayalath Jayawardane, der im März mit einer Parlamentarierdelegation die Schweiz besuchte, schränkt ein: «Man kann leider noch nicht sagen, dass Tamilen in Sicherheit zurückkehren könnten. Zudem leben heute noch rund 800 000 Personen, in der überaus grossen Mehrheit Tamilen, als intern Vertriebene in einem Flüchtlingslager oder bei Verwandten.» Die eine oder andere Familie dürfte in den nächsten Monaten dennoch den Versuch einer Rückkehr wagen. Aber der Duft nach Curry aus geöffneten Küchenfenstern wird der Schweiz noch lange erhalten bleiben.
 
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